Gutartig, aber nicht harmlos
Ärzte diskutieren über neue Therapien für Tumore
Sie hört schlecht. Ob das etwas mit ihrem Alter zu tun hat oder es sich doch um die Spätfolgen der Operation handelt, kann ihr niemand sagen. Vera Andree hat nie nachgefragt. Will sie auch gar nicht. Die 74 Jahre alte Frau ist froh, dass sie lebt.
Vor 16 Jahren wurden ihr an der Uniklinik große Teile eines gutartigen Hirntumors entfernt. Eine hochdosierte Strahlentherapie folgte. Andree war eine der ersten Patientinnen, die von einer interdisziplinären Zusammenarbeit der Radio- und Neurochirurgie profitierte. 16 Jahre später dient ihr Fall den Ärzten noch immer als Lehrstück. „Dass man langfristige Beobachtungen machen konnte, zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, sagt Claus Rödel, Leiter der Klinik für Strahlentherapie.
Wie die Zusammenarbeit der Vertreter beider Fachrichtungen in Zukunft intensiviert werden kann, ist heute Thema eines interdisziplinären Symposions, bei dem es um Behandlungsmöglichkeiten für gutartige Tumore geht. Ein solcher Austausch sei dringend erforderlich, sagt Radiochirurg Robert Wolff. Denn die Zahl der Tumorerkrankungen nehme stetig zu. „Für gutartige Tumore fehlt es häufig an einem ausreichenden Behandlungskonzept.“ Claus Rödel ergänzt: „Biologisch gutartige Tumore können den Menschen trotzdem umbringen.“ Etwa dann, wenn sie wichtige Nerven oder Adern verdrängen. Rund 80 Patienten seien in den vergangenen Jahren nach der Teilentfernung eines gutartigen Tumors zusätzlich bestrahlt worden. Die Zahl derer, die von der Kooperation beider Fachrichtungen in Zukunft profitieren könnten, werde aber steigen, ist sich Wolff sicher.
Volker Seifert, Leiter der Klinik für Neurochirurgie, sieht in der „gemeinsamen Betrachtung“ der Tumore einen Gewinn. „Es gibt nicht die eine große Operationstechnik“, sagt er. Es gehe darum, die für den Patienten beste Entscheidung zu treffen. Und in manchen Fällen gehe es auch darum, abzuwarten. „Das Nichtstun erfordert die höchste Expertise“, sagt auch Rödel. Denn bei gutartigen Tumoren, die häufig keinerlei Beschwerden verursachten, sei nicht immer ein Eingriff erforderlich.
Im Fall von Vera Andree mussten die Ärzte handeln. Sie drohte zu erblinden. Ihr Augenlicht hat sie behalten, und sie hat das Reisen für sich entdeckt. Ihr nächstes Ziel: London.
(FAZ vom 28.09.2018, S.37)